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In die Welt
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„Was machst du nach dem Abitur?“, wurde ich während des letzten Schuljahres oft gefragt. Lange schon war für mich klar, dass ich gern „weg“ wollte. Doch erst ein halbes Jahr vorher war meine Antwort konkret: „Ich werde für ein Jahr als Freiwillige der Jesuitenmission in den Kosovo gehen.“ Aber diese Aussage warf immer noch unzählige Fragen auf: „Was erwartet mich dort?“, „Wen werde ich treffen?“, „Was werden meine Aufgaben sein?“, und, und, und…
Erst mit meiner Ankunft im Kosovo sammle ich erste Antworten auf diese Fragen. Im kleinsten Land Europas, dessen Unabhängigkeit erst seit 2008 von rund 100 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen anerkannt wird, erwartet mich und meine Mitfreiwillige Patricia Siegert unsere erste eigene Wohnung. Die Wohnung befindet sich auf dem Schul- und Internatsgelände der Privatschule Asociation Loyola-Gymnasium.
Das Loyola-Gymnasium wurde vor zehn Jahren durch den Jesuitenorden gegründet. Ziel ist es, der jungen Generation in dem von Kriegserinnerungen geprägten Land eine unabhängige Bildung zu ermöglichen, die Kritikfähigkeit, Selbständigkeit und Demokratie lehrt und eine starke Zivilgesellschaft herausbildet.
In unserem neuen Zuhause empfängt uns unsere Mitbewohnerin Vlora, die als Deutschlehrerin am Loyola-Gymnasium arbeitet. Außerdem wohnen auf dem Gelände Pater Bödefeld, der Schulleiter, Pater Shtjefen und zwei junge Jesuiten, Moritz und Tomislav, die im sozialen Bereich an der Schule arbeiten.
Ich bin seit einem Monat im Kosovo und spreche trotz des intensiven Sprachkurses während der Sommerferien nur wenig Albanisch. Mit Ankunft der Schülerinnen und Schüler beginnt meine Arbeit: die Gestaltung eines Sozialprojekts für die Oberstufe zusammen mit Moritz und Tomislav. Der Zielort ist Tranzit, ein Roma-Viertel keine fünf Minuten vom Schulgelände entfernt und doch völlig unbekannt, übersehen und vom Rest der Stadt isoliert.
Ich habe keine Worte, nicht auf Deutsch und schon gar nicht auf Albanisch.
Gemeinsam mit einer Oberstufengruppe besuche ich die Familien dort zum ersten Mal. Noch kennen wir einander nicht. Als wir aus dem Bulli aussteigen, kommen uns ein Dutzend Kinder entgegengerannt und umarmen uns. Ich habe keine Worte, nicht auf Deutsch und schon gar nicht auf Albanisch. Unter den Kindern ist die vierjährige Jasmina: kurze Haare, Fußballtrikot und ein freches – aber liebevolles – Grinsen. Während die Loyola-Schülerinnen und Schüler beginnen, mit den anderen Kindern zu spielen oder sich mit den Müttern zu unterhalten, fordert Jasmina mich auf, sie an den Händen hoch in die Luft zu ziehen, wenn sie hüpft. Gemeinsam zählen wir, wie oft hintereinander sie es schafft. So lernen wir beide – ich wiederhole ein paar Vokabeln und sie zählt zum ersten Mal.
Auch bei den nächsten Besuchen im Viertel kommt Jasmina immer direkt zu mir und ich lasse sie fliegen. Ich bin dankbar für ihr Vertrauen und ihre Aufmerksamkeit. Denn noch fühle ich mich den Eltern, den anderen Kindern und auch den Loyola-Schülern und Schülerinnen gegenüber etwas eingeschränkt, vor allem wegen der geringen Sprachkenntnisse, aber auch weil es eine so neue und unbekannte Situation für mich ist.
Es gibt noch einige Besuche, bei denen wir mal einen Fußball, mal ein Klatschspiel oder auch mal einen Tanz im Gepäck haben. Beziehungen entstehen. Beim Kennenlernen der besonderen Lebenssituationen in Tranzit helfen mir vor allem Reflexionen des Erlebten: zum einen mit den Loyola-Schülern und Schülerinnen anschließend an ihre Stunden im Viertel, zum anderen aber auch bei zahlreichen Treffen mit meinen Kollegen.
Aus den Reflexionsrunden mit der Oberstufe entwickelt sich der Wunsch, den Kindern in Tranzit etwas von dem weiterzugeben, was sie besitzen. Den Gymnasiasten ist ziemlich schnell klar, dass ihre gute Bildung ein wertvolles Gut ist, das sie gern teilen wollen. Also entscheiden sie sich dazu „Lehrkräfte“ für die Roma zu sein. Wir, Moritz, Tomislav und ich, unterstützen sie dabei.
Durch die vielen Besucher wissen wir ziemlich genau, welche der Kinder zur Schule gehen, gingen oder nie dort gewesen sind. Die Gymnasiasten gründen also eine ABC-Klasse für alle Kinder von sechs bis 16 Jahren, um ihnen die Buchstaben und anschließend das Lesen und Schreiben beizubringen. Der Unterricht findet in einem Raum statt, den wir mitten im Viertel gemietet haben.
Während der Lernzeit läuft mir auch Jasmina wieder über den Weg. Ihre vier älteren Geschwister sitzen drinnen und lernen, aber sie ist noch zu jung. Jasmina ist nicht die Einzige, es gibt um die 20 Kleinkinder in Tranzit. Sie alle kommen nicht oft raus von zu Hause. Doch glücklicherweise geht es nicht nur den Kleinkindern so, sondern auch einigen Jugendlichen. Da diese das Alphabet schon beherrschen, wollen sie nicht am Unterricht teilnehmen, sondern lieber mitarbeiten. Wir nehmen dieses Angebot gern an und so beginne ich, mit drei von ihnen eine Vormittagsbetreuung für die Kleinkinder aufzubauen. Wir alle werden zu Verantwortungsträgern und -trägerinnen!
Inspiriert durch die Hospitation in einem städtischen Kindergarten erstelle ich ein Konzept, nach dem die Kinder erste Strukturen lernen sollen: zum Beispiel vor und nach dem Essen Hände waschen oder gemeinsam mit dem Essen beginnen. Durch die Begegnung mit den Gleichaltrigen entwickeln sie soziale Kompetenzen, sie lernen miteinander umzugehen, Streitereien friedlich zu lösen. Manche beginnen endlich richtig zu sprechen und es gibt täglich eine Lektion: Wochentage, Monate, Tierarten, und so weiter.
Jasmina ist gemeinsam mit ihrer Schwester im Kindergarten. Jeden Morgen gehören sie zu den Kindern, die sehnsüchtig darauf warten, von uns abgeholt zu werden. Trotzdem dauert es mindestens zehn Minuten bis sie fertig gewaschen, gekämmt und angezogen ist. Stolz strahlt Jasmina von einem zum anderen Ohr, wenn sie mir am Morgen auf dem Weg zum Raum die neu gelernten Wochentage aufzählt.
Diese Suche nach der bewussten Wahrnehmung teile ich mit meiner Mitfreiwilligen und den beiden jungen Jesuiten. So gehen wir diesen Weg gemeinsam und können viel Kraft aus unserem Austausch ziehen und immer wieder mit neuer Energie und Leichtigkeit in den Alltag durchstarten.
Bei dieser neuen Verantwortung sind die Gespräche mit Moritz, der mich in meiner Aufgabe begleitet, von besonderer Bedeutung. Gemeinsam gelingt es uns, die Augen immer wieder neu zu öffnen und zu sehen, wo eine Veränderung nötig ist. Ein ebenso großer Lernschritt ist es, zu sehen, was großartig läuft und wofür wir von Herzen dankbar sein können.
Diese Suche nach der bewussten Wahrnehmung teile ich mit meiner Mitfreiwilligen und den beiden jungen Jesuiten. So gehen wir diesen Weg gemeinsam und können viel Kraft aus unserem Austausch ziehen und immer wieder mit neuer Energie und Leichtigkeit in den Alltag durchstarten.
An meinem letzten Tag verabschiede ich mich von allen mit einem Ausflug in den Zoo. Es ist traumhaft für mich zu sehen, wie diszipliniert die Kleinen sich die Tiere anschauen und wie verantwortungsbewusst die Erzieherinnen und Erzieher die Kinder an den Gehegen vorbeileiten. Den krönenden Abschluss bildet der große Spielplatz des Zoos. Jasmina erzählt mir, dass sie das erste Mal in ihrem Leben rutscht und beim Schaukeln ist sie kaum zu bremsen, weil sie immer höher fliegen möchte.
Wenn ich die Gruppe so betrachte, habe ich das Gefühl, jeden einzelnen abheben zu sehen. Zum Beispiel die Kleinen, die ihre häuslichen Mauern überflogen haben und dadurch in einer neuen Gemeinschaft gelandet sind. Oder die Erzieherinnen und Erzieher, die jetzt ihr eigenes Geld verdienen und die durch ihre Arbeit sehr an Selbstvertrauen gewonnen haben. Oder auch ich selbst, die ich an der Verantwortung gewachsen bin und Grenzen überwinden konnte. Wie viel haben wir alle doch gelernt!
Mein Jahr im Kosovo war so enorm vielseitig und ereignisreich, dass die Zeit im wahrsten Sinne des Wortes verflogen ist. Ein Jahr mit zahlreichen, wertvollen, einzigartigen Facetten! Bei meiner Abreise merke ich, dass mir einige Menschen hier sehr ans Herz gewachsen sind und dass ich sie sehr vermissen werde.
Beim Blick auf meine Rückkehr überkommen mich schon wieder zahlreiche Fragen: „Wie kann ich meiner Familie und meinen Freunden von dem berichten, was ich erlebt habe?“, „Wie werden meine Erfahrungen aus dem Kosovo mein weiteres Leben beeinflussen?“. Nichtsdestotrotz freue ich mich darauf, in Deutschland einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen, dieses Mal heißt es: Studium.