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Mehr Mut zu inklusivem Freiwilligendienst

Am 3. Dezember erinnert der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung an die Bedeutung von Inklusion und Teilhabe. Auch im Freiwilligendienst zeigt sich, wie bereichernd Vielfalt sein kann: Samuel, der aus der Elfenbeinküste stammt und im Rollstuhl sitzt, hat ein Jahr lang im Unterstützungszentrum Gaisbühl der BruderhausDiakonie Menschen mit Behinderung und Senioren unterstützt. Kirsten Heinzelmann hat seinen Einsatz dort organisiert und von Anfang an begleitet. In einem Interview teilt sie wertvolle Tipps, wie Organisationen inklusive Freiwillige erfolgreich einbinden können.

Können Sie uns kurz Ihre soziale Einrichtung und deren Hauptaufgaben vorstellen? Wie kam es dazu, dass Ihre Einrichtung am weltwärts-Programm teilnimmt?

Kirsten Heinzelmann: Die BruderhausDiakonie ist eine gemeinnützige, christlich-diakonische Stiftung in Baden-Württemberg. Unsere Angebote umfassen vielfältige Assistenz- und Unterstützungsleistungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Wir sind in den Bereichen Altenhilfe, Behindertenhilfe, Jugendhilfe, Sozialpsychiatrie, Arbeit und berufliche Bildung tätig.

Das Unterstützungszentrum Gaisbühl – in dem Samuel eingesetzt war – ist in der Behindertenhilfe tätig und bietet Wohnraum und Tagesstruktur für Menschen mit Behinderung an. Wir bieten jedes Jahr Plätze im Freiwilligendienst und sind offen für alle Programme. Aktuell sind es 34 Freiwillige in unserer Einrichtung. Davon kommen 80 bis 90 Prozent aus dem Ausland, so etwa aus Äthiopien, Indien, Uganda oder Ländern Lateinamerikas. Das Diakonische Werk hat sich mit der Anfrage zu einem inklusiven Freiwilligen der Elfenbeinküste an uns gewandt und wir fanden das sehr spannend. Samuel war unser erster inklusiver Freiwilliger.

„Behinderung bedeutet nicht Unfähigkeit!“

Welche speziellen medizinischen Vorbereitungen und Herausforderungen gab es bei der Integration von Samuel?

Kirsten Heinzelmann: Vorab haben wir ein Netzwerk aus Hausärzten und Therapeuten geschaffen, weil klar war, dass Samuel aufgrund einer Krankheit eine ärztliche Begleitung brauchen würde. Und auch, wenn er in der Elfenbeinküste keine Gymnastik hatte, wollten wir ihm bieten, was hier vor Ort möglich war. Wir haben verschiedene Hausärzte angeschrieben, seine Problematik geschildet und von allen eine Zusage für seine Betreuung während des Jahres bei uns bekommen. Letztlich haben wir den Hausarzt auf unserem Gelände ausgewählt. So hatte er keinen weiten Weg.

Samuel sitzt im Rollstuhl an einen See und genießt die Sonne
Samuel war als Freiwilliger beim USZ Gaisbühl der BruderhausDiakonie eingesetzt

Welche weiteren Herausforderungen gab es?

Kirsten Heinzelmann: Wir brauchten eine barrierefreie Wohnung oder eine Wohnung, welche wir mit kleinem Aufwand umbauen konnten. Herausforderung bei der Planung war: Wir kannten ihn menschlich nicht, seine Fähigkeiten, wie er im europäischen Kontext zurechtkommen würde. Kann er in der Küche kochen? Was braucht er im Badezimmer? Deshalb haben wir erstmal mehr Bedarf eingeplant.

Er hat letztlich in einer 4er WG mit anderen Freiwilligen gewohnt, die 90 Prozent barrierefrei war - mit einem Aufzug in den sechsten Stock. Im Gemeinschaftsbereich haben wir für ihn gut zugänglich eine Küchenzeile durch unseren Hausmeister anbringen lassen. Dieser hat einfach eine interne Rechnung dafür gestellt. Alle dort haben ihn unterstützt. Aber er wollte im Alltag auch seinen eigenen Beitrag leisten, wie etwa Betten beziehen oder einkaufen. Das haben wir mithilfe eines Butlerservices gelöst. Es war nicht einfach, für den geringen zeitlichen Aufwand überhaupt eine Assistenz zu finden. Denn Samuel brauchte die Unterstützung fürs Saubermachen oder Einkaufen am Freitag nach Feierabend oder am Wochenende. Das Butlerteam war eine private Assistenzfirma, die Pflege und Assistenz im Rahmen des sogenannten Teilhabegesetzes anbietet.

Wie wurden die Maßnahmen für die Förderung finanziert?

Kirsten Heinzelmann: Das Diakonische Werk hat alle erforderlichen Gelder als Mehrbedarf bei weltwärts beantragt. Es gab zudem einen kleinen Spendenkreis für den Bewerber, weil er eine Patin hatte, die einen Unterstützerkreis organisiert hat. Das war allerdings im Vergleich zur Förderung durch weltwärts nur ein geringfügiger Betrag.

Gelder im Rahmen des Teilhabegesetzes wurden nicht bewilligt, weil Samuel nicht in der deutschen Rentenversicherung bzw. hier im System war. Wir mussten andere Fördertöpfe nutzen, so eben die von weltwärts. Im Nachhinein hat sich allerdings gezeigt, dass Samuel nicht so viel Förderung gebraucht hat, wie wir anfangs vermutet haben. Wir mussten gar nicht alle vorgesehenen Mittel abrufen, wie etwa den Bad-Umbau.

Wie wurde sein Einsatzbereich ausgewählt und organisiert, damit dieser seinen Fähigkeiten, Sprachkenntnissen und Interessen entspricht?

Kisten Heinzelmann: Nach der Anreise von Samuel haben die Kolleg*innen mit ihm zusammen erarbeitet, was er leisten kann. Klar war, dass Samuel seinen Freiwilligendienst in der Tagesstruktur für Senior*innen  ableisten würde. Wohngruppen mit Pflege wären nicht möglich gewesen. Eine Sprachbarriere gab es nicht, da er schon gut Deutsch konnte. Wir haben ihm geregelte Arbeitszeiten von 8 bis 16 Uhr ermöglicht, freitags bis 13 Uhr. So musste er nicht im Schichtdienst arbeiten und im Dunkeln unterwegs sein. Er hat morgens Kaffee gekocht, den Tisch vorbereitet, in der Küche geholfen, das Freizeitprogramm organisiert und durchgeführt und viel mit allen gesprochen – was natürlich auch sein Deutsch sehr verbessert hat. Für die Senior*innen war er ein vollwertiger Mitarbeiter. Unsere Menschen nehmen dich so wie du bist. Das hat mich damals auch in die Altenpflege gebracht.

Nicht unsere ganze Einrichtung ist barrierefrei, so auch das Verwaltungsgebäude. Bei internen Seminartagen wurde Samuel von seinen Mitfreiwilligen im Rollstuhl die Treppe rauf- und runtergetragen, das war aber für niemanden ein Problem. Am Ende lief alles wunderbar und Samuel hatte kaum Einschränkungen. Hier kommen Menschen mit Behinderung von Anfang an in eine andere Hilfsstruktur, die Samuel von zuhause nicht gewohnt war. Trotzdem hat er sich in der Elfenbeinküste selbständig versorgt und sehr selbstständig gelebt. Er war sehr engagiert und wollte alles selbst machen.

Samuel sitzt im Rollstuhl im Schnee und freut sich über das erste Mal Winter
Das erste Mal im Schnee

Welche Erfahrungen haben Sie, das Team und die Menschen vor Ort durch seinen Einsatz gemacht?

Kirsten Heinzelmann: Ganz am Anfang habe ich gemerkt, dass das Team skeptisch war: „Macht der Freiwillige uns Mehrarbeit und ist er überhaupt voll einsetzbar?“ Ich konnte die Ängste auch verstehen. Die Freiwilligen bei uns sind schon wichtig in unserer Einrichtung. Klar, unser Betrieb darf nicht von ihnen abhängen, aber sie haben anders Zeit für die Menschen, die wir betreuen. Wir haben damals deshalb noch eine zusätzliche Freiwillige ausgehandelt für dieses Jahr, um ggfs. etwas kompensieren zu können. Leider ist die Freiwillige nach drei Monaten wieder gegangen. Im Nachgang sagen alle: Wir hätten diese Stelle auch gar nicht gebraucht. Es war rundum eine wunderbare Erfahrung und alle waren sehr traurig, als Samuel uns nach einem Jahr wieder verlassen hat.

Ich empfehle allen interessierten Einrichtungen: Einfach ausprobieren! Man ist viel zu verkopft. Man muss einfach offen sein, Kompromisse eingehen und auch mal untypische Wege gehen.

Welche konkreten Empfehlungen würden Sie anderen sozialen Einrichtungen geben, die überlegen, einen inklusiven Freiwilligen aus einem anderen Kulturkreis aufzunehmen?

Kirsten Heinzelmann: Ich empfehle allen interessierten Einrichtungen: Einfach ausprobieren! Ich habe die Betreuung von Samuel kurzfristig von meinem Vorgänger übernommen, der die Position gewechselt hat. Am Anfang wusste ich nicht, wie das werden soll. Meine größte Angst war: „Wie sollen wir das denn umsetzen?“ Man ist viel zu verkopft. Man muss einfach offen sein, Kompromisse eingehen und auch mal untypische Wege gehen.

So hatte Samuel kein barrierefreies Badezimmer in seiner WG. Neben der Tagesstruktur war ein Wohnhaus, was absolut barrierefrei war. Mit den Kolleg*innen dort haben wir vereinbart, dass Samuel dort duschen kann. Er hatte Zugang zur dortigen Wohngruppe, wo ihn die Mitarbeiter*innen auf Wunsch auch unterstützt haben. Für uns ist es vielleicht nicht normal, in der Nachbarschaft duschen zu gehen. Aber wenn es hilft, sind alle dabei.

Gibt es eine besondere Geschichte, die Sie teilen möchten?

Kirsten Heinzelmann: „Frau Kirsten“, hat er immer zu mir gesagt. „Ich habe von einer Mitarbeiterin einen Wintersack für die Füße bekommen.“ Ich: „Den wirst du im Winter brauchen.“ Er lachte er und sagte: „Das ziehe ich nicht an. Das mache ich nicht.“ Dann kam der erste Schnee, moderate zwei bis drei Grad und … er kam mir mit dem Fußsack entgegen. Auf meine Überraschung antwortete er mir, dass er sonst erfriere. Er hätte nie geglaubt, dass es in Deutschland so kalt werden könnte.

Er ist nur mit Handgepäck angereist und mit dem Zehnfachen an Gepäck wieder abgereist. Für sein Herkunftsland hat er ganz viele Rollatoren und Rollstühle gesammelt, um sie dort weiterzugeben. Er war fasziniert von dem, was ihm von uns geboten wurde und was wir möglich gemacht haben.

Samuel aus der Elfenbeinküste steht im Rollstuhl an einem Fluss und hat in seinem Rollstuhl einen Wintersack gegen die Kälte an
Samuel hat sich mit dem geschenkten Wintersackdoch angefreundet

Was hat Sie persönlich bei der Zusammenarbeit mit Samuel am meisten beeindruckt oder inspiriert?

Kirsten Heinzelmann: Mich hat seine Lebensfreude und Offenheit beeindruckt. Da kommt ein junger Mensch in ein neues Land, hat seine Beeinträchtigung, aber meistert alles so souverän. Ich fand es beeindruckend, wie die anderen Freiwilligen auf Samuel reagiert haben und wie schnell er ein wichtiger Teil der Dynamik geworden ist. Heute bin ich sehr dankbar für die Erfahrung und die Begegnung mit ihm. Wir haben immer noch Kontakt über Mail und ich hoffe sehr, dass wir uns eines Tages wiedersehen können. Wir wünschen ihm nur das Beste und dass er alle seine Wünsche und Vorstellungen vom Leben erreichen wird.

Was bewegt Sie mit Blick auf den Tag der Menschen mit Behinderung 2024?

Kirsten Heinzelmann: Ich sehe für die Zukunft Chancen für Inklusion und Diversität im Freiwilligendienst. Das Wichtige ist, seine Bedenken abzubauen und offen zu sein, neue Wege einzuschlagen. Einfach mal machen und nicht alles kaputt denken.

Herzlichen Dank an Kirsten Heinzelmann für die spannenden Einblicke!

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