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Allein im letzten Jahr mussten rund 122 Millionen Menschen vor Krieg, Verfolgung, Hunger und Naturkatastrophen fliehen. Anlässlich des Weltflüchtlingstags erzählt Ottilie, was sie in ihrem Freiwilligendienst mit syrischen Geflüchteten in Jordanien erlebt und vor allem lernt. Ottilie hat vor zwei Jahren ihr Abitur in Berlin abgeschlossen. Danach ging es für sie zunächst nach Italien, um dort mit Geflüchteten im Theaterbereich zu arbeiten. Seit letztem Jahr ist sie in Jordanien und macht ihren weltwärts-Freiwilligendienst über die Organisation Berliner Missionswerk in einem Flüchtlingscamp.
Ottilie: Mein Vater hatte eine palästinensische Frau, weshalb wir in meiner Familie auch arabisch sprachen. Wir waren jeden Sommer in Palästina. So hat sich meine Liebe für die Sprache entwickelt. Ich selbst habe arabisch nach meiner Schulzeit gelernt. Eine Voraussetzung für die Einsatzstelle sind die Sprachkenntnisse zwar nicht, trotzdem würde ich es jedem und jeder Freiwilligen empfehlen. In meinem Alltag sprechen die meisten Menschen ausschließlich arabisch.
Ottilie: In Palästina war ich zwar als Kind jedes Jahr, seit vier Jahren aber nicht mehr. Und auch nach dem 7. Oktober [Anm.: Datum der Attacke der Terrorgruppe Hamas gegen Israel] war die Stimmung natürlich eine andere. In der Woche, in der ich ausgereist bin, war Jordanien auch zum ersten Mal diesbezüglich in den Nachrichten. Das war schon etwas beängstigend. Ich hatte sogar Zweifel, ob ich überhaupt ausreisen darf. Besonders die Kommentare aus meinem Umfeld haben mich verunsichert. Viele, denen ich von meinen Ausreiseplänen erzählt habe, reagierten mit: „Ist da nicht Krieg?“. Als ich angekommen bin waren aber alle vorher gemachten Sorgen weg. Für die Menschen in Jordanien ist diese Situation nun mal Alltag.
Ottilie: Ich arbeite in einem Flüchtlingscamp in Zaatari, im Norden Jordaniens (10 km von der syrischen Grenze entfernt). Hier leben ausschließlich syrische Geflüchtete. Das hat mich sehr überrascht, weil ich bei dem hohen palästinensischen Bevölkerungsanteil nicht davon ausging, dass mein Freundeskreis und meine Kontakte bei der Arbeit fast ausschließlich aus Syrer*innen bestehen würden. Die Geflüchteten sind größtenteils nach dem syrischen Bürgerkrieg 2011/2012 in das Camp geflohen. Seitdem leben sie hier. Das Camp besteht zu einem großen Teil aus Kindern, die stellenweise dort geboren sind.
Ottilie: Dieses Jahr war wirklich besonders für Syrer*innen. Um den 09. Dezember 2024, als das Ende des Assad Regimes bekannt wurde, waren die Straßen voller Freude, Tränen und Hoffnung. Das war wirklich unglaublich. Viele im Camp wollten sofort zurück nach Syrien. Auch durch die Aufhebung der US-Sanktionen wuchs dieser Wunsch nach zwölf Jahren zurückzukehren. Dieser Aufbruch durchzog alle Bereiche des Lebens. Die Frage, wie es weitergeht, beschäftigte alle sehr. Es herrscht Hoffnung auf Veränderung. Nach den Veröffentlichungen der Bilder aus den syrischen Foltergefängnissen des Assad-Regimes kamen Ohnmacht, Schmerz und Re-Traumatisierung dazu.
Ottilie: Zehntausende Menschen flohen nach Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien nach Jordanien. Daher wurde dieses Camp aufgebaut. Die ersten Jahre im Camp waren wohl eine Katastrophe. Im Camp leben heute rund 60.000 Menschen. Anfangs mussten die Menschen in Zelten leben, mittlerweile konnten Caravans aufgebaut werden. Die Bewohner*innen haben sich nach all der Zeit eine eigene kleine Stadt aufgebaut. Sie haben eine Hauptstraße namens Champs Élysées und viele Geschäfte. Das Camp ist in zwölf Quartiere eingeteilt. Diese Strukturen haben sich die Bewohner*innen selbst aufgebaut. Die Quartiere sind voller Leben. Es gibt sowohl Hochzeiten als auch Beerdigungen. Das ist auch notwendig, denn die Geflüchteten dürfen das Camp nicht verlassen. Sie sind sozusagen in Jordanien, ohne in Jordanien zu sein. Ihr ganzes Leben findet im Camp statt. Das Camp liegt mitten in der Wüste, weshalb es auch keine natürlichen Wasser- und Lebensmittelquellen gibt.
Ottilie plant gerade Interviews, um die Geschichten und Perspektiven der Geflüchteten aufzuzeichnen, unter anderem für einen Kurzfilm. Sie interviewt dafür verschiedene Menschen aus dem Camp. Dabei hat sie zum Beispiel mit einem Zehnjährigen gesprochen, der noch nie in Syrien war und gleichzeitig mit einer 50-Jährigen, die Syrien als ihr Zuhause beschreibt. Sie hört aber auch Stimmen von Menschen, die in Syrien studiert haben, dort aber keine Zukunft sehen.
Ottilie: In Zaatari bin ich zwei Tage die Woche. Einen Tag pro Woche bin ich in Zarqa. Dort leben hauptsächlich palästinensische, aber auch syrische Geflüchtete. In Zarqa gebe ich Frauen zwischen 25 und 50 Englischunterricht. In Zaatari mache ich dasselbe mit Schülern zwischen 13 und 17 Jahren. Mädchen und Jungen sind getrennt. Der Freiwilligendienst gibt mir sehr viel. Am Anfang war ein reiner Bürojob in Amman für mich vorgesehen. Ich wollte aber bei den Menschen sein, was dann auch kein Problem darstellte. Zu Beginn habe ich Theaterworkshops im Camp veranstaltet. Nach dem Fall von Assad war das jedoch nicht mehr im Fokus. Ab diesem Zeitpunkt habe ich mich an die Wünsche der Geflüchteten angepasst. Die Schulausbildung in Syrien ist qualitativ höher als im Camp. Da viele den Wunsch haben zurückzukehren, habe ich angefangen, Englischunterricht zu geben. Dabei ist es wichtig nicht einfach strikten Unterricht zu planen, sondern einen Ort zu schaffen, an dem die Kinder gerne Englisch lernen und zusammenkommen können. Ich habe sehr viel Gestaltungsspielraum in meiner Arbeit. Gleichzeitig bin ich eine der wenigen Freiwilligen im Camp. Das Geld für Angestellte fehlt leider.
Ottilie: Ich bin sehr gerne in der Hauptstadt unterwegs. Amman ist eine wunderschöne Stadt. Hier gibt es alles – Bars, Kulturcafés und Kunstausstellungen. Zusätzlich habe ich für fünf Monate einen Theaterkurs besucht. Letzte Woche hatten wir sogar eine Aufführung. Manchmal treibt es mich auch in die Natur. Diese ist sehr divers, anders als man es sich vielleicht in Deutschland vorstellt.
Ottilie: Die derzeitigen Krisen werden dazu führen, dass noch mehr Menschen fliehen müssen. Viele sehen diese Menschen nur als Belastung. Dabei finde ich, dass sie eine Bereicherung für unsere Gesellschaft sind. Ich habe hier viel erlebt, wovon wir in Deutschland lernen könnten. Meiner Meinung nach sind wir zu isoliert. Nach dem Motto: „keiner rein, keiner raus.“ Ich habe gelernt, wie wichtig zwischenmenschliche Interaktion ist, die ich im deutschen Alltag in Berlin so nicht hatte. Jede*r hier ist miteinander verbunden, man fühlt sich geschätzt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass hier jede Person gleich geschätzt wird. Die Großzügigkeit, Freundlichkeit und Liebe in allen Bereichen des Lebens ist faszinierend. In Deutschland habe ich eine sehr individualistische Gesellschaft wahrgenommen.
Ottilie: Die ersten Wochen habe ich bei einer syrischen Familie gewohnt. Hier verbringe ich jeden Freitag meine Zeit. Die Zeit mit ihnen ist so wertvoll, weil sie mich einfach in ihre Familie aufgenommen haben. Als Gast wird man hier wie ein König behandelt. Ich darf mittlerweile jeden Tag den Abwasch machen.
„Als Gast wird man hier wie ein König behandelt. Ich darf mittlerweile jeden Tag den Abwasch machen.“