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Marlene ist 19 Jahre alt und kommt aus Berlin. Dort hat sie im Sommer 2023 ihr Abitur erfolgreich abgeschlossen und daran anschließend ein einjähriges Orientierungsstudium am Leibniz Kolleg der Universität Tübingen gemacht. Im September 2024 ging es für sie weltwärts. Ihr Ziel: Belgrad, die Hauptstadt von Serbien.
Marlene: Während meiner Schulzeit habe ich als Fundraiserin für die NGOs „Care Deutschland" und „Plan International“ gearbeitet. Dadurch habe ich mich viel mit sozialer und vor allem geschlechterspezifischer Ungleichheit beschäftigt. Da die Organisationen überwiegend in Entwicklungsländern aktiv sind, haben sich diese Probleme für mich sehr weit weg angefühlt – doch geschlechtsspezifische Gewalt und Menschenhandel finden genauso in Europa statt.
Für Menschen, die sich etwa auf der Flucht vor Krieg oder in der Hoffnung auf bessere Lebensumstände nach Europa aufmachen, ist das Risiko, Opfer von Menschenhandel zu werden, besonders hoch. Meiner Meinung nach tragen die EU und die europäischen Länder in diesem Kontext eine besondere Verantwortung. Menschenhändler nutzen nicht nur die Vulnerabilität der Schutzsuchenden aus, sondern profitieren auch von den fehlenden Gegenmaßnahmen der Transit- und Zielländer.
Um zu verstehen und zu lernen, wie wir uns dagegen stark machen können, beschloss ich mich für einen Freiwilligendienst bei Atina in Belgrad zu bewerben.
Marlene engagiert sich über die Stiftung Schüler*innen Helfen Leben bei Atina, einer NGO in Serbien, die sich für die Bekämpfung des Menschenhandels und aller Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt stark macht. Atina setzt sich seit 22 Jahren gegen Menschenhandel ein und bietet betroffenen Mädchen und Frauen rechtliche, psychologische sowie soziale Unterstützung an.
Marlene: Atina unterstützt sowohl Betroffene aus Serbien als auch Frauen, die Teil der Flüchtlings- und Emigriertengemeinschaft sind. Letztere sind vor allem mit einer großen Sprachbarriere und dem Zurechtkommen in einer fremden Kultur konfrontiert. Eine große Hürde bildet auch alles, was mit Bürokratie zu tun hat. Generell fällt es vielen Betroffenen schwer, nach dem Erlebten überhaupt wieder einen Alltag aufzubauen.
Viele der Mädchen und Frauen, die Atina unterstützt, gehören der Gemeinschaft der Roma an. Obwohl die Roma eine der größten ethnischen Gruppierungen in Serbien darstellen, leben sie strikt von der serbischen Mehrheitsgesellschaft getrennt und haben mit dauerhafter struktureller Benachteiligung zu kämpfen. Nur wenige Kinder der Roma-Gemeinschaft besuchen die Schule. Sie helfen stattdessen dabei, den Lebensunterhalt zu finanzieren. Mädchen werden sehr jung verheiratet und bekommen stellenweise mit 14 Jahren das erste Kind. Das versperrt den Weg für eine selbstbestimmte Zukunft. Ich bin der Meinung, dass – anstatt ausreichende Unterstützungsangebote zu schaffen – diese Nebenexistenz von Staat und Mehrheitsgesellschaft ignoriert und durch Vorurteile verfestigt wird.
Marlene: Oft begleite ich die Mädchen und Frauen bei Freizeitaktivitäten. Etwa gemeinsames Basteln, das Erkunden der Stadt, oder ich unterstütze sie beim Englisch lernen. Ich bin auch für sie zum Reden da, damit sie in einen Alltag zurückfinden können. Ein großer Teil meiner Aufgaben besteht außerdem darin, Kleiderspenden zu sortieren und an die Betroffenen zu verteilen oder bei unseren Workshops die Kinder der Teilnehmerinnen zu betreuen.
„Während meiner Schulzeit habe ich als Fundraiserin gearbeitet. Da die Organisationen überwiegend in Entwicklungsländern aktiv sind, haben sich diese Probleme für mich sehr weit weg angefühlt – doch geschlechtsspezifische Gewalt und Menschenhandel finden genauso in Europa statt.“
Marlene: Die größte Herausforderung ist die Sprachbarriere, denn ich spreche kein fließendes Serbisch. Nur wenige der Personen, mit denen wir zusammenarbeiten, sprechen Englisch, sodass ich lernen musste, mich auf andere, kreativere Weise zu verständigen. Außerdem musste ich mich am Anfang an die für mich unbekannten Lebensrealitäten der Betroffenen gewöhnen. Davor gehörte es nicht zu meinem Alltag, dass zum Beispiel viele gleichaltrige oder noch jüngere Mädchen in meinem Umfeld bereits mehrere Kinder haben.
Marlene: Durch die direkte Arbeit mit den Betroffenen habe ich sehr viel auf der zwischenmenschlichen Ebene dazugelernt. Hier hat der Satz „Do not judge a book by its cover“ an Bedeutung gewonnen: Es ist unmöglich, dem Gegenüber anzusehen, was die Person bereits durchgemacht hat. Man sollte sich immer bewusst sein, dass das für mich vermeintlich banalste der Welt für eine andere Person ein Triggerpunkt sein kann.
Menschenhandel und geschlechterspezifische Gewalt passiert nie nur zwischen Opfer und Täter, sondern wird, meiner Meinung nach, erst durch alle, die davor ihre Augen verschließen, ermöglicht. Daher finde ich, dass es nicht nur unsere Aufgabe ist, Betroffenen Schutz und Unterstützung zu liefern, sondern proaktiv und präventiv zu handeln – um so das Risiko, dass Personen Opfer von Menschenhandel werden, zu bekämpfen. Ich glaube, mit dem im März 2025 von der EU-Kommission vorgeschlagenen Gemeinsamen Europäischen Rückkehrsystem, das Schutzsuchende kriminalisiert, gehen wir gerade in die falsche Richtung. Das gibt mir sehr zu denken.
Marlene: Sei offen und lass dich auf neue Erfahrungen und vor allem auf neue Personen ein. Achte aber gleichzeitig auf deine eigenen Grenzen und respektiere die der anderen. Gerade Menschenhandel und geschlechterspezifische Gewalt sind hochsensible Thematiken. Es benötigt Zeit, einen Umgang damit zu finden, besonders im Kontakt mit Betroffenen. Die Zeit dafür sollte man sich nehmen und lieber mehr Fragen stellen, als überstürzt zu handeln. Der Freiwilligendienst ist zu großen Teilen ein Lerndienst!
weltwärts distanziert sich hiermit von jeglichen politischen Forderungen und Aussagen. Das Interview spiegelt lediglich die persönliche Meinung der interviewten Person wieder.